Umgang mit Diversität in der Systemischen Beratung und Therapie


Einleitung

Diversität ist längst nicht mehr nur ein Schlagwort, sondern eine alltägliche Realität in Beratung und Therapie. Menschen kommen mit vielfältigen Hintergründen, Identitäten, Lebensentwürfen und Werten in den Beratungsraum. Für die systemische Beratung und Therapie ist der Umgang mit Diversität zentral, da sie das Leben jedes Einzelnen in unterschiedlichen Dimensionen prägt – sei es durch Herkunft, Kultur, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion, soziale Lage oder durch individuelle Lebenserfahrungen. Ein systemisches Arbeiten, das Diversität ernst nimmt, bedeutet deshalb nicht nur, Unterschiede zu tolerieren, sondern sie aktiv als Ressource zu begreifen und in den Beratungsprozess einzubeziehen.

Im Folgenden wird beleuchtet, wie Diversität systemisch verstanden wird, welche Herausforderungen und Chancen sie für die Praxis bietet und welche Haltungen und Methoden Beraterinnen und Therapeutinnen unterstützen können, um einen wertschätzenden und ressourcenorientierten Umgang zu fördern.


1. Diversität als systemische Realität

Systemische Beratung und Therapie geht grundsätzlich davon aus, dass Menschen in sozialen Kontexten eingebettet sind. Identität entsteht nicht isoliert, sondern in der Wechselwirkung mit Familie, Gemeinschaft, gesellschaftlichen Normen und Institutionen. Diversität beschreibt in diesem Zusammenhang die Vielfalt dieser Kontexte und Zugehörigkeiten.

Jede Person bringt verschiedene Zugehörigkeiten in den Beratungsprozess ein: Eine Klientin kann beispielsweise gleichzeitig Mutter, Migrantin, lesbische Frau, Angestellte und Tochter alternder Eltern sein. Diese Zugehörigkeiten prägen ihre Erfahrungen, aber auch die Sichtweisen, die andere auf sie haben. Systemisches Arbeiten versucht, diese unterschiedlichen Ebenen sichtbar zu machen und Klient*innen zu unterstützen, ihre eigenen Bedeutungszuschreibungen zu reflektieren und neue Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.


2. Grundhaltung: Wertschätzung und Anerkennung

Ein zentraler Pfeiler im Umgang mit Diversität ist die systemische Grundhaltung der Wertschätzung. Jede Lebensform und jede Perspektive wird als legitim angesehen. Das bedeutet nicht, dass alle Handlungen unkritisch bejaht werden, sondern dass Unterschiede nicht hierarchisch bewertet werden.

Für die Praxis heißt das:

  • Therapeut*innen achten bewusst darauf, keine vorschnellen Annahmen über „richtig“ oder „normal“ zu machen.
  • Sie geben Raum für unterschiedliche Sichtweisen und achten darauf, auch marginalisierte Stimmen hörbar werden zu lassen.
  • Sie nehmen die Position der „Nicht-Wissenden“ ein, um neugierig und offen nach den individuellen Bedeutungen zu fragen, die Klient*innen ihrem Erleben zuschreiben.

Diese Haltung der Anerkennung schafft einen sicheren Raum, in dem Menschen ihre Vielfalt zeigen können, ohne Angst vor Abwertung zu haben.


3. Herausforderungen im Umgang mit Diversität

So wertvoll Diversität ist, sie bringt auch Herausforderungen mit sich. Dazu gehören u.a.:

a) Eigene Vorannahmen und „blinde Flecken“

Berater*innen sind selbst Teil gesellschaftlicher Systeme. Sie haben eigene kulturelle Prägungen, Normen und Werte. Unbewusst können sie Stereotype oder Vorurteile in die Beratung einbringen. Reflexion der eigenen Haltung ist daher ein fortlaufender Prozess.

b) Sprachliche Verständigung

Sprache ist das zentrale Medium der Beratung. Unterschiedliche Sprachen, Dialekte oder Fachbegriffe können Barrieren darstellen. Gleichzeitig kann die Anerkennung und der Einsatz der Muttersprache einer Klientin enorme Ressourcen aktivieren.

c) Machtasymmetrien

Diversität bedeutet oft auch Unterschiede in sozialer und institutioneller Macht. Beispielsweise erleben Menschen mit Migrationsgeschichte Diskriminierung oder sind rechtlichen Unsicherheiten ausgesetzt. Systemische Beratung muss diese Kontexte berücksichtigen, um Klient*innen nicht allein auf individueller Ebene zu problematisieren.


4. Chancen durch Diversität

So herausfordernd der Umgang mit Unterschiedlichkeiten sein kann, eröffnet Diversität enorme Möglichkeiten:

  • Ressourcenvielfalt: Unterschiedliche kulturelle oder familiäre Hintergründe bringen vielfältige Lösungsstrategien und Perspektiven in den Beratungsraum.
  • Erweiterung der Sichtweisen: Klientinnen wie auch Beraterinnen können durch die Begegnung mit dem „Anderen“ eigene Annahmen hinterfragen und neue Denkweisen entwickeln.
  • Empowerment: Wenn Unterschiede nicht als Defizit, sondern als Stärke gewürdigt werden, kann das Selbstwertgefühl von Klient*innen erheblich gestärkt werden.

5. Systemische Methoden im Kontext von Diversität

Die systemische Praxis bietet eine Vielzahl von Methoden, um Diversität konstruktiv einzubeziehen:

a) Zirkuläres Fragen

Durch Fragen, die unterschiedliche Perspektiven berücksichtigen („Wie würde Ihre Schwester die Situation sehen?“, „Wie denken Sie, erlebt Ihr Kind diesen Unterschied?“), werden Unterschiede sichtbar, ohne sie zu bewerten.

b) Genogrammarbeit

Genogramme ermöglichen, kulturelle, religiöse oder generationenübergreifende Muster darzustellen. Sie machen familiäre Diversität sichtbar und eröffnen Gespräche über Werte, Rollenbilder und Traditionen.

c) Externalisierung

Probleme werden sprachlich von der Person getrennt („Der Konflikt zwischen den Kulturen beeinflusst Ihre Familie“ statt „Sie sind das Problem“). So können komplexe Diversitätserfahrungen bearbeitet werden, ohne Schuldzuweisungen zu erzeugen.

d) Ressourcenorientierung

Besonderes Augenmerk liegt auf den Stärken, die aus unterschiedlichen kulturellen oder sozialen Kontexten erwachsen. So kann zum Beispiel die Mehrsprachigkeit einer Familie nicht nur als Hindernis, sondern als Ressource in der Identitätsentwicklung der Kinder betrachtet werden.


6. Intersektionale Perspektive

Ein moderner Zugang zum Thema Diversität ist die Intersektionalität. Sie geht davon aus, dass Menschen nicht nur durch ein Merkmal geprägt sind, sondern durch die Überschneidung verschiedener Zugehörigkeiten. So kann eine schwarze, alleinerziehende Frau mit Behinderung gleichzeitig Rassismus, Sexismus, soziale Benachteiligung und Barrieren durch ihre Behinderung erfahren.

Systemische Beratung, die intersektional denkt, fragt danach, wie diese unterschiedlichen Faktoren zusammenspielen und welche Bedeutung sie für die Handlungsmöglichkeiten der Klientinnen haben. Sie unterstützt Klientinnen dabei, eigene Ressourcen zu aktivieren und gesellschaftliche Strukturen kritisch zu reflektieren.


7. Haltung der Berater*innen: Selbstreflexion und Weiterbildung

Um Diversität konstruktiv zu begleiten, ist kontinuierliche Selbstreflexion unerlässlich. Folgende Fragen können Berater*innen begleiten:

  • Welche Normen und Werte habe ich selbst internalisiert?
  • Wo könnte ich unbewusst privilegiert sein?
  • Wie gehe ich mit Klient*innen um, die andere kulturelle oder religiöse Vorstellungen haben als ich?

Darüber hinaus ist regelmäßige Weiterbildung zu Themen wie interkulturelle Kompetenz, Genderfragen oder Antidiskriminierung hilfreich. Supervision und Intervision bieten Räume, um eigene Unsicherheiten oder „blinde Flecken“ zu besprechen.


8. Praxisbeispiel

Eine Familie mit türkischem Migrationshintergrund sucht Unterstützung, weil die 17-jährige Tochter den Wunsch äußert, ohne Kopftuch zur Schule zu gehen. Die Eltern fühlen sich durch die Entscheidung in ihren religiösen Werten verletzt.

In der systemischen Beratung könnte es darum gehen:

  • die unterschiedlichen Perspektiven sichtbar zu machen, ohne eine Seite zu verurteilen,
  • kulturelle Werte und deren Bedeutung zu würdigen,
  • die Tochter darin zu unterstützen, ihre Wünsche klar zu kommunizieren,
  • gleichzeitig den Eltern Raum zu geben, ihre Sorgen und Ängste zu äußern,
  • gemeinsame Lösungen zu entwickeln, die die Würde und Handlungsfähigkeit aller Beteiligten respektieren.

So entsteht ein Dialog, der Diversität nicht als Problem, sondern als Teil des familiären Systems versteht, mit dem kreativ und respektvoll umgegangen werden kann.


9. Fazit

Der Umgang mit Diversität in der systemischen Beratung und Therapie ist keine Zusatzaufgabe, sondern Teil der täglichen Praxis. Unterschiedlichkeit ist immer präsent – sei es durch kulturelle Hintergründe, Geschlechterrollen, Lebensentwürfe oder soziale Zugehörigkeiten.

Eine systemische Haltung, die Diversität anerkennt und wertschätzt, eröffnet Chancen: Sie erweitert den Blick, stärkt Ressourcen und trägt dazu bei, dass Menschen sich in ihrer Vielfalt gesehen und verstanden fühlen. Methoden wie zirkuläres Fragen, Genogrammarbeit oder Externalisierung helfen, diese Vielfalt konstruktiv in den Prozess einzubeziehen.

Letztlich geht es darum, Beratungsräume zu schaffen, in denen alle Menschen mit ihrer individuellen Geschichte und ihren vielfältigen Zugehörigkeiten Platz haben. Diversität wird dann nicht als Störung, sondern als Schatz begriffen – ein Schatz, der hilft, kreative Lösungen zu entwickeln und neue Perspektiven auf das eigene Leben zu gewinnen.

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