Systemische Anteilearbeit: Glaubenssätze und die guten Gründe hinter dem Verhalten
Einleitung
Die systemische Anteilearbeit ist ein wirkungsvolles Konzept innerhalb der systemischen Therapie und Beratung. Sie ermöglicht es, die innere Vielfalt von Menschen sichtbar und nutzbar zu machen. Statt den Menschen als einheitliches „Ganzes“ zu betrachten, geht man davon aus, dass er aus unterschiedlichen „Anteilen“ besteht – innere Stimmen, Haltungen, Bedürfnisse oder Muster, die in bestimmten Situationen aktiv werden. Diese Anteile sind oft durch Lebenserfahrungen, soziale Kontexte und Beziehungen geprägt und steuern unser Erleben und Handeln.
Im Zentrum der Anteilearbeit steht das Verständnis, dass jedes Verhalten – auch wenn es nach außen problematisch wirkt – einen guten Grund hat. Häufig liegen darunter alte Glaubenssätze, die in der Vergangenheit hilfreich waren, sich jedoch im Hier und Heute als hinderlich zeigen können.
Was versteht man unter systemischer Anteilearbeit?
Die Anteilearbeit beschreibt einen methodischen Ansatz, bei dem die verschiedenen inneren Stimmen oder Persönlichkeitsanteile eines Menschen bewusst gemacht, differenziert und in Beziehung zueinander gesetzt werden.
- Innere Pluralität: Jeder Mensch trägt unterschiedliche „Seiten“ in sich – zum Beispiel einen leistungsorientierten Anteil, einen ängstlichen Anteil, einen fürsorglichen Anteil oder einen rebellischen Anteil.
- Kontextualisierung: Diese Anteile sind nicht isoliert, sondern haben sich in einem bestimmten Kontext entwickelt. Sie hatten ursprünglich eine Funktion, um Sicherheit, Zugehörigkeit oder Selbstschutz zu gewährleisten.
- Dialogische Haltung: Die Anteilearbeit erfolgt in einem respektvollen, neugierigen Dialog. Statt Anteile zu bewerten oder „loswerden“ zu wollen, geht es darum, ihre Bedeutung zu verstehen und sie in ein inneres Zusammenspiel zu bringen.
Damit wird sichtbar: Kein Anteil ist „schlecht“. Vielmehr geht es um die Integration, das Bewusstwerden von Ressourcen und die Entwicklung neuer Handlungsmöglichkeiten.
Glaubenssätze als Fundament der Anteile
Anteile sind häufig eng mit bestimmten Glaubenssätzen verknüpft. Diese Glaubenssätze stellen innere Überzeugungen dar, die das Denken, Fühlen und Handeln einer Person prägen. Sie entstehen durch Erfahrungen in der Herkunftsfamilie, in Beziehungen, in schulischen oder beruflichen Kontexten.
Einschränkende Glaubenssätze:
- „Ich bin nicht gut genug.“
- „Ich darf keine Schwäche zeigen.“
- „Andere sind wichtiger als ich.“
- „Wenn ich nicht perfekt bin, werde ich nicht geliebt.“
Stärkende Glaubenssätze:
- „Ich darf Fehler machen und trotzdem wertvoll sein.“
- „Ich habe ein Recht auf meine Bedürfnisse.“
- „Ich darf meinen eigenen Weg gehen.“
- „Ich bin verbunden und nicht allein.“
Die einschränkenden Glaubenssätze sind meist eng mit Schutzstrategien verknüpft. Sie entstanden in Situationen, in denen sie eine wichtige Funktion erfüllten. So kann ein Anteil, der ständig zu Höchstleistungen antreibt, eng mit dem Glaubenssatz verbunden sein: „Nur wenn ich perfekt bin, bekomme ich Anerkennung.“
Die guten Gründe für Verhalten
Systemisch betrachtet, macht jedes Verhalten Sinn, auch wenn es auf den ersten Blick dysfunktional wirkt. Hinter jedem Verhalten steckt ein guter Grund – eine positive Absicht oder ein Schutzmechanismus.
- Perfektionismus: Schutz vor Kritik oder Zurückweisung, Bedürfnis nach Anerkennung.
- Rückzug und Isolation: Schutz vor Verletzungen, Selbstfürsorge in überfordernden Kontexten.
- Aggression oder Wut: Abgrenzung, Verteidigung eigener Grenzen, Signal, dass etwas nicht stimmt.
- Anpassung: Zugehörigkeit sichern, Konflikte vermeiden, Sicherheit im System aufrechterhalten.
In der Anteilearbeit geht es nicht darum, diese Verhaltensweisen zu „eliminieren“, sondern sie in ihrem Sinn zu würdigen. Erst wenn die guten Gründe verstanden werden, kann ein nachhaltiger Veränderungsprozess einsetzen.
Methoden der systemischen Anteilearbeit
Die systemische Anteilearbeit bedient sich verschiedener Methoden, um die inneren Stimmen sichtbar und erlebbar zu machen.
Aufstellung innerer Anteile
Ähnlich wie in einer Familienaufstellung können Anteile im Raum dargestellt werden – durch Stühle, Symbole oder Mitspieler. So wird erfahrbar, wie die Anteile zueinander in Beziehung stehen.
Dialog mit Anteilen
Der Klient kann im Rollenspiel mit seinen Anteilen ins Gespräch treten. Ein Anteil übernimmt den Platz auf einem Stuhl, spricht aus seiner Perspektive und schildert, wofür er wichtig ist.
Arbeit mit Metaphern und Bildern
Anteile werden als Figuren, Tiere oder Symbole dargestellt. Dadurch fällt es oft leichter, Zugang zu schwer benennbaren Gefühlen oder Haltungen zu finden.
Reframing der Glaubenssätze
Einschränkende Glaubenssätze werden nicht bekämpft, sondern in ihrer Logik gewürdigt und dann behutsam erweitert, bis ein neuer, hilfreicherer Glaubenssatz entstehen kann.
Integration
Am Ende geht es nicht um das „Abschaffen“ von Anteilen, sondern um eine Balance: Welcher Anteil darf mehr Raum bekommen? Welcher darf in den Hintergrund treten?
Praxisbeispiel
Eine Klientin schildert, dass sie immer wieder unter starker Selbstkritik leidet. Ein „innerer Antreiber“ meldet sich ständig: „Du musst mehr leisten!“, „Das war nicht gut genug!“
Glaubenssatz dahinter: „Nur wenn ich perfekt bin, werde ich gemocht.“
Guter Grund: In ihrer Kindheit erlebte die Klientin Anerkennung fast ausschließlich für Leistung. Der Anteil sorgt bis heute dafür, dass sie Erfolg hat und sich vor Zurückweisung schützt.
In der Anteilearbeit wird dieser innere Antreiber nicht bekämpft, sondern wertgeschätzt: „Danke, dass du so lange dafür gesorgt hast, dass sie Anerkennung bekommt.“ Gleichzeitig wird ein neuer Anteil eingeladen – der „wohlwollende Begleiter“, der sagt: „Du bist auch ohne Leistung liebenswert.“ So entsteht ein innerer Dialog, der langfristig mehr Selbstfreundlichkeit ermöglicht.
Haltung der Therapeutin / des Therapeuten
Die Wirksamkeit der Anteilearbeit hängt stark von der Haltung der Therapeutin oder des Therapeuten ab. Wichtige Aspekte sind:
- Allparteilichkeit: Jeder Anteil wird ernst genommen, keiner wird bewertet.
- Ressourcenorientierung: Auch problematische Verhaltensweisen haben positive Absichten.
- Neugier und Respekt: Statt zu pathologisieren, wird gefragt: „Wozu war dieses Verhalten einmal nützlich?“
- Selbstbestimmung: Der Klient entscheidet, wie er mit seinen Anteilen in Kontakt treten möchte.
Chancen und Herausforderungen
Chancen:
- Klienten entwickeln ein tieferes Verständnis für ihre inneren Dynamiken.
- Selbstakzeptanz und Selbstfreundlichkeit werden gestärkt.
- Neue Handlungsoptionen entstehen.
Herausforderungen:
- Manche Klienten fürchten, dass die Anerkennung problematischer Anteile zu mehr Problemen führt.
- Es kann Überforderung entstehen, wenn zu viele Anteile gleichzeitig aktiviert werden.
- Es braucht eine sichere therapeutische Beziehung, um mit belastenden Anteilen in Kontakt zu treten.
Fazit
Die systemische Anteilearbeit ist ein kraftvoller Weg, um innere Dynamiken sichtbar zu machen und Veränderung zu ermöglichen. Glaubenssätze und die guten Gründe für Verhalten spielen dabei eine Schlüsselrolle. Statt Anteile zu verdrängen oder zu bekämpfen, werden sie wertgeschätzt und in einen konstruktiven Dialog gebracht. So entsteht ein integrativer Prozess, der nicht nur Entlastung schafft, sondern auch zu mehr Selbstakzeptanz, Selbstbewusstsein und Handlungsfreiheit führt.
Die zentrale Botschaft lautet: Hinter jedem Verhalten steckt ein guter Grund. Wenn dieser verstanden wird, öffnet sich der Weg zu echter Veränderung und innerem Wachstum.
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